„Mach mal Platz! Ich will auch gucken!“ Die Kindergartenkinder rangeln um die besten Plätze am Fenster. Sie sind fasziniert von dem großen Bagger, der draußen arbeitet. Das will natürlich jeder sehen. Mal wird geschubst und gedrängelt, mal fachsimpeln die kleinen Experten einträchtig über die Fahrzeuge, die da gerade im Einsatz sind.
Wenig später sitzen alle im Stuhlkreis und lernen das neue Lied für das bevorstehende Laternenfest: „Ein bisschen wie St. Martin will ich sein…“ singen sie und dabei üben sie nicht nur das Lied, sie üben auch, wie das gut geht mit dem Teilen und der Rücksichtnahme. Mit großem Eifer teilt Philipp den kleinen, roten Mantel mit dem Spielzeugschwert, um die eine Hälfte Elisa zu geben, die den Bettler spielt und deshalb bibbernd auf dem Boden sitzt.
Diese Haltung, die die Kinder hier lernen und einüben, wird sie ein Leben lang begleiten und prägen – weit über die Kindergartenzeit hinaus. Wenn wir lernen, anderen Platz zu machen, damit auch sie die Welt sehen können, wenn wir aufhören, nur an unseren eigenen Vorteil zu denken, dann haben wir viel von St. Martin gelernt. Und dann erfüllt sich, was Paulus in seinem Brief an die Philipper sagt: dass wir als Kinder Gottes wie die Sterne in der Nacht leuchten werden (Phil 2,15).
Nach dem Gottesdienst zu St. Martin ziehen alle aus der Kirche, zünden ihre Laternen an und singen: „Dort oben leuchten die Sterne – und unten da leuchten wir.“ Ich verstehe das als Auftrag. Wie die unzähligen Sterne, die selbst in der dunkelsten Nacht leuchten und funkeln, sind wir dazu berufen, auf der Erde zu leuchten und Licht in die Dunkelheit zu bringen.
Wer schon einmal alleine mit seiner Laterne in einer stockdunklen Gegend unterwegs war, hat die Erfahrung gemacht: das kleine Licht ist zwar schön anzusehen, reicht aber nicht weit. Doch wenn alle Laternen eines ganzen Kindergartens zusammenkommen: wie hell werden dann die Straßen erleuchtet! So verhält es sich auch mit dem, was die Kinder am Beispiel von St. Martin lernen. Einzelne Taten mögen nach außen klein erscheinen – aber für einen einzelnen Menschen können sie die Welt bedeuten. Und ich bin überzeugt davon: viel wächst aus einer Haltung, die die anderen Menschen im Blick hat. Wenn das Gerangel um den eigenen Vorteil, um die besten Plätze im Leben ein Ende hat – dann haben Große und Kleine viel gelernt von St. Martin.
Rund um den 11. November erinnert uns das Martinsfest in jedem Jahr daran, dass wir einander Licht sein können. Martin hat in Jesus Christus das Licht der Welt erkannt. Er hat sich davon anstecken lassen und dieses Licht weitergegeben. Wenn wir unseren Teil dazu beitragen, dieses Licht zu verbreiten, dann verstärkt sich das Leuchten. Dann gehören wir zu einer großen Wolke von Zeugen, die alle dazu beitragen, die Dunkelheit zurückzudrängen.
Denn jede und jeder von uns hat das Potential, Licht in die Dunkelheit und Wärme in die Herzen zu bringen. So wie es uns die Kinder jedes Jahr vorsingen: „Dort oben leuchten die Sterne – und unten da leuchten wir.“
Ihre Pfarrerin Antje Armstroff, Ulrichstein