Ulrichstein zeigt Gesicht

„Gesicht zeigen“ – dieser Gedanke stand hinter dem von verschiedenen Menschen aus Ulrichstein ins Leben gerufenen Aktionsbündnis und der Einladung zu einer Kundgebung für Demokratie, Freiheit und Vielfalt am Mittwoch, 5. Juni.

Rund 150 Menschen sind dieser Einladung gefolgt und haben trotz des strömenden Regens Gesicht gezeigt. Eine der Rednerinnen war Pfarrerin Antje Armstroff. Ihre Rede ist hier nachzulesen:

Liebe Ulrichsteinerinnen und Ulrichsteiner,
liebe Menschen aus den Nachbargemeinden, aus dem Vogelsberg oder woher ihr auch kommt:

Schön, dass ihr hier seid, um Gesicht zu zeigen: für Demokratie, Freiheit und Vielfalt. In einer Zeit, in der diese Grundwerte immer wieder herausgefordert und bedroht werden, ist es umso wichtiger, dass wir gemeinsam ein Zeichen setzen. Wie gut, dass ihr alle da seid!

Vor wenigen Tagen konnten wir ein wichtiges Jubiläum feiern: 75 Jahre Grundgesetz. Aber was heißt „feiern“? Unser Grundgesetz vom 23. Mai 1949 entstand ja nicht aus einer optimistischen Laune heraus oder aus hoffnungsfrohen Gefühlen des Aufbruchs.
Das Grundgesetz kommt leise daher – es nennt sich nicht einmal Verfassung, weil es zunächst provisorisch ordnen wollte, was erschüttert daniederlag: das physisch und moralisch in Trümmern liegende Deutschland.

Vielen sind zumindest die ersten Artikel des Grundgesetzes bekannt, aber es gibt auch noch eine Präambel, also ein Vorwort. Das lautet so:

„Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,

von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

Drei wichtige Stichworte werden also allem, was kommt, vorangestellt: Verantwortung, Frieden – und Gott.

Verantwortung, weil sich niemand davor drücken kann. Niemand kann sagen: Ich interessiere mich nicht für Politik. Es würde doch auch niemand sagen: ich interessiere mich nicht dafür, wo ich wohne. Wie ich lebe. Was ich esse. Ich interessiere mich nicht dafür, ob und welche Arbeit ich habe. Wie es meiner Oma geht. Meinen Enkeln. Oder Freudinnen und Freunden.

Das Grundgesetz macht klar, dass wir Verantwortung tragen – für uns, und für andere.

Den Frauen und Männern, die damals das Grundgesetz geschrieben haben, ging es vor diesem Hintergrund um eine neue Ordnung des Zusammenlebens. Es war ein Aufstehen aus Zerstörung, Menschenverachtung und Amoralität. Es galt, neue Grundsätze zu vereinbaren zu den Fragen: Wie wollen wir zusammenleben? Was ist der moralische Kompass, an dem wir uns ausrichten? Auf welche gemeinsamen Grundpfeiler können wir uns einigen?

Im Vorwort zum Grundgesetz klingt das so: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen … hat sich das Deutsche Volk … dieses Grundgesetz gegeben.“

Das heißt: wir stehen nicht nur in der Verantwortung füreinander – sondern wir stehen in der Verantwortung vor Gott. Das heißt: wir richten uns in unserem moralischen Kompass nach dem aus, was wir aus unserem christlichen Glauben heraus in uns tragen. Dann wird die Bibel, die christliche Botschaft, das Evangelium, sozusagen die „Brille“, durch die wir auf die Welt schauen.

Und das schlägt sich gleich im Artikel 1 nieder: Die Würde des Menschen ist unantastbar!

Die Verfasser des Grundgesetzes wussten um den Wert dieser Würde. Mit der Betonung dieser Würde beginnen die Grundrechte, die in den ersten 19 Artikeln festgehalten sind – sie sind so gut wie unveränderbar und besonders geschützt, damit ihnen nie wieder etwas geschieht. Unantastbar sind damit auch: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ (Artikel 2) „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ (Artikel 3) „Eine Zensur findet nicht statt.“ (Artikel 5) „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ (Artikel 16).

Diese grundlegenden Menschenrechte haben ihre Wurzeln in den Erfahrungen der Vergangenheit. Der oft zitierte Satz: „Nie wieder ist jetzt!“ klingt darin mit.
Das ist wichtig, weil wir erleben, dass Menschen Macht missbrauchen, andere abwerten, niedertreten und mit Hass überziehen.

Aber gerade deshalb sind wir hier und zeigen Gesicht. Weil wir an diesen Grundpfeilern festhalten – an der Würde des Menschen, an seiner Gottesebenbildlichkeit und am Schutz des Lebens.

Das klingt alles so leicht – aber wir sind realistisch genug um zu wissen: ganz so einfach ist das nicht. Auch wenn wir hier heute Abend so einträchtig zusammen stehen – muss uns auch klar sein: In aller Verschiedenheit stehen wir heute hier. Aus verschiedenen Altersgruppen, aus verschiedenen Berufen, aus verschiedenen Vereinen und Parteien, aus unterschiedlichen Glaubensrichtungen. Es gäbe viele Themen, bei denen wir jetzt in eine hitzige Diskussion einsteigen könnten – und bei denen wir keinen Konsens finden würden. So realistisch müssen wir sein. Aber: Das ist auch völlig in Ordnung. Mit dem Grundgesetz gesprochen: Das ist ja unser gutes Recht!

Eine Demokratie muss das abkönnen. Andere Meinungen aushalten, miteinander diskutieren, streiten und um richtige Entscheidungen ringen. Das ist manchmal richtig schwer. Aber eines muss auch klar sein: das gemeinsame Fundament, auf dem wir stehen.

Heute stehen wir hier und zeigen Gesicht für Demokratie, Freiheit, Vielfalt. Wenn wir uns darauf als gemeinsames Fundament einigen können, dann haben wir schon viel gewonnen.

Dann ist klar, dass wir als einzelne und noch so verschiedene Personen für die Grundrechte stehen – und sie allen Menschen einräumen.

„In Verantwortung vor Gott…“ so beginnt das Vorwort unseres Grundgesetzes. Wer sich in dieser Verantwortung sieht, wer sich selbst als Christ bezeichnet, der ist durch seinen Glauben verpflichtet, für die Würde jedes Menschen, für Nächstenliebe, Frieden, soziale Gerechtigkeit und die Anerkennung der Vielfalt einzutreten.

Die Vielfalt – sie steht heute auf unserem Plakat. Völlig zu recht: denn die Schöpfung Gottes ist vielfältig und bunt. Jeder Mensch ist einzigartig und trägt zur Fülle der Schöpfung bei. Der Apostel Paulus schreibt in seinem ersten Brief an die Korinther (12,12-27) über die Vielfalt der verschiedenen Glieder, die zu einem Körper gehören – und wie wichtig jedes einzelne Körperteil ist. Jeder Teil hat seine eigene Funktion und ist wichtig für das Ganze. Zum Beispiel: Der Fuß kann nicht sagen, dass er nicht zum Körper gehört, nur weil er kein Auge ist. Das Ohr kann nicht zu der Hand sagen: Dich brauche ich nicht.
Alle Teile, obwohl sie unterschiedlich sind, arbeiten zusammen und sind gleichermaßen wichtig.

Paulus macht mit diesem Beispiel deutlich, wie wichtig Einheit und Vielfalt in der Gemeinschaft sind – jeder hat einzigartige Fähigkeiten und Aufgaben, die gemeinsam das Ganze stark machen.
Und diese Vorstellung von Vielfalt steht im Gegensatz zu einer Gesellschaftsidee, die manche Menschen ausschließt – aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens oder ihrer Identität. Vielfalt ist eine Bereicherung und ein Geschenk Gottes – und keine Bedrohung.

Wer sich als Christin oder Christ bezeichnet, wer in der Verantwortung des Grundgesetzes steht – der ist dazu aufgerufen, die Welt durch die Brille des Evangeliums zu sehen. Und dann bekommt man eine klare Sicht auf die grundlegenden Prinzipien unseres Glaubens: Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Freiheit und die unantastbare Würde jedes Menschen. Dann bekommt man einen Kompass, der die Richtung anzeigt, wie wir handeln sollen – und wie nicht.

Dieser Kompass fordert uns auf, Wege der Verständigung und des Dialogs zu suchen, um ein friedliches Miteinander zu fördern. Dieser Kompass setzt auf Versöhnung – und nicht auf Spaltung oder Verschärfung von Konflikten. Dieser Kompass zeigt, wo es soziale Ungleichheiten auszuräumen gibt und wo benachteiligte Menschen zu unterstützen sind.

Wenn diese Prinzipien unseres christlichen Glaubens der Kompass für unser Denken und Handeln sind – dann können wir damit bewerten, wofür wir einstehen und wo wir entschieden unsere Stimme erheben müssen.

Unser Gemeinwesen, unsere Demokratie baut auf uns. Denn eines muss man sich immer wieder klar machen: die Demokratie ist kein Selbstläufer – und sie ist nicht selbstverständlich. Die Demokratie selbst kann sogar mit demokratischen Mitteln gestürzt werden – das kennen wir aus der Geschichte: die demokratische Reichstagswahl im November 1932 hat der nationalsozialistischen Herrschaft den Weg bereitet. Es gibt durchaus ein „jetzt ist es zu spät“.

Also: Die Demokratie lebt davon, dass wir Verantwortung übernehmen und für unsere Überzeugungen eintreten. Dass wir nicht andere vorschieben und für uns entscheiden lassen. Dass wir unser Herz und unseren Verstand gebrauchen.
Demokratie lebt von der Bereitschaft zum Streiten – aber auch vom Willen zur Versöhnung. Demokratie lebt vom Hoffnungsmut – heute und morgen. Und nur gemeinsam lässt sie sich verwirklichen.
Niemand ist unbedeutend.
Und niemand ist nichtverantwortlich.
Gemeinsam schauen wir auf das, was uns verbindet – und gemeinsam treten wir dafür ein: für Demokratie, Freiheit und Vielfalt.

Danke, dass ihr heute da seid und Gesicht zeigt.